Donnerstag, 10. Dezember 2009

Täglich fast aus meines Dorfes Frieden,
wo ich zwischen Feld und Büsche wohne,
wo ich sieben Nachtigallen höre,
wo mich Fink und Amsel lang schon kennen
und mich keck beäugen,
wenn ich nahe,
wo die Welt im Sommer eine Laube
und ein silberweißer Dom im Winter,
wo vom Schreibtisch ich den Habicht schweben sehe
durch des Himmels große Stille

Täglich fast aus meines Dorfes Frieden,
wo ich Ruhe, Traum und Klarheit atme,
lenk’ ich meinen Schritt zur nahen Weltstadt,
um zu fühlen, was ich sonst vergäße,
dass die Welt nicht Klarheit, Traum und Frieden,
nicht ein heimlich Wohnen zwischen Hecken,
ach, kein Spiel mit Fink und Drossel ist.

In das weite, wilde Meer der Menschen
Tauch’ ich unter dann und lass mich treiben.
Ja, sie sind wie windverstörte Wellen;
Eine will die andre überrennen,
und am letzten Strand zerschäumen alle.
Wie sie jagen, stoßen, knirschen
wie sie Not und Habsucht durcheinander wirbelt!
Nur geradeaus den Blick gerichtet,
drängen sie und trappeln sie und traben,
sehen nicht das stille Leben fluten,
sehn nicht, wie es stumm zu beiden Seiten
fließt und fließt ins große Meer der Stille,
ewig ungelebt und ungenossen.

Ach, sie leben nicht - nur, um zu leben!
Vorwärts, vorwärts nur den Blick gerichtet,
treibt es sie die schattenlose Straße fort,
hinweg vom Schoß der großen Mutter.
Und versunken in des wilden Meeres
tote Tiefen ist die alte Kunde,
dass ein Glück sich dehnt in leichten Lüften,
Friede wandert zwischen Halm und Hecken,
dass ein off’nes, frohes Menschenauge
wie ein See des Paradieses glänzt.

Einmal nur im Jahre find’ ich’s anders!
Brach herein der Weihnacht heil’ge Frühe,
nehm ich Hut und Stock und wandre fröhlich
in die große Stadt. So tat ich heute.
Drängen, Treiben seh’ ich heut’ wie immer,
seh’ ein wogend Meer wie alle Tage;
aber auf den Fluten dieses Meeres
ruht wie Sonnenschein ein einzig Lächeln.

Und – o frommes Wunder ohne gleichen,
selbst der Kaufherr, dessen Furcht und Hoffnung
sonst um Indiens Silberminen kreisen,
heimgefunden hat er in den Frieden einer höhern und stiller’n Welt.
Lächelnd seh ich in entspannten Mienen
und wo Lächeln nicht, doch einen Glauben an das Lächeln.
Starre Blicke seh’ ich wohl wie sonst,
allein sie starren glänzend in ein Licht,
das sie allein erschauen.

Welches Glaubens sie und welches Sinnes,
einmal wieder haben sie’s vernommen,
einmal glauben sie die frohe Botschaft,
dass ein Glück mag kommen aus den Lüften,
dass ein Friede wohnt in grünen Tannen,
dass ein liebend Wang’-an-Wange-Schmiegen
alle Not beschämt und alles Prangen,
dass ein off’nes frohes Menschenauge
wie ein See des Paradieses glänzt.
Von versunk’nen Städten singt die Sage,
deren Glocken aus der Tiefe klingen.
Geh’ ich weihnachts durch den Schwall der Straßen,
dringt durch allen Lärm ein stetes Klingen:
Leise aus verlor’nen Gründen hör’ ichLäuten die versunk’ne Stadt des Glücks.

Otto Ernst 1862 - 1926

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